„Das Kernmerkmal technologischen Wandels ist, dass wir diesen kurzfristig über-, aber langfristig unterschätzen.“

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Thomas Koehler im Interview mit Tanja Sedlmeier.

Herr Koehler, Sie sprechen viel über Transformation und Zukunft. Wie schaffen es Ihrer Meinung nach etablierte Unternehmen, nicht nur zu reagieren, sondern proaktiv die Veränderung zu gestalten, ohne ihre Identität zu verlieren?

Prof. Thomas Koehler: Der erste und entscheidende Schritt ist, dranzubleiben an der Entwicklung in der eigenen Branche und an den Veränderungen in potenziell relevanten Branchen. Meist sind es nämlich nicht die eigenen Wettbewerber, sondern benachbarte oder gänzlich andere Branchen, von denen die wahren Gefahren durch Disruption ausgehen. Natürlich könnte man jetzt vom Einzelhandel und Innenstadt versus eCommerce anfangen, aber ich möchte Ihnen zwei andere Beispiele mitgeben, die konkreter sind:

Wir kennen alle noch vom Fliegen die gedruckten Bordkarten mit Abrisskante, aber wann haben wir zuletzt davon eine in der Hand gehabt? Geflogen wird immer mehr, aber eben meist mit Ticket auf dem Handy. Was glauben Sie, was mit den Herstellern der Papiertickets passiert ist?

Gerade hat Tesla Autos gezeigt, die direkt von der Fabrik selbständig zum Kunden fahren. Bisher ist dieser Transport die Domäne zahlreicher meist mittelständischer – auf Automobillogistik – spezialisierter Spediteure. Aber was, wenn das Tesla-Modell Schule macht. Braucht man dann noch die ganzen teuren Autotransporter?

Besser man hat frühzeitig einen Plan für solche Situationen und eine eigene Marktbeobachtung, die hilft gefährliche Tendenzen ebenso wie Chancen zu identifizieren.

Innovation ist viel mehr als bloß neue Produkte oder Technologien. Wie erkennen Sie vielversprechende Innovationen, wie strukturiert man Prozesse, damit Neues ausprobiert werden kann, und wie geht man mit dem Scheitern um?

Es ist ein großer Irrtum zu glauben, man könnte erfolgreich „Innovationsmanagement“ betreiben, wie es in vielen Managementratgebern suggeriert wird. Ja klar, im Kleinen geht das schon irgendwie, aber da reicht oft der Kasten für die Verbesserungsvorschläge, den es seit Jahrzehnten gibt. Inkrementelle Verbesserung des Bestehenden funktioniert meist, aber echte Innovation findet meist woanders statt, häufig bei Startups oder branchenfremden Unternehmen.

Je größer die Organisation, umso schwerer scheint das zu sein. Selbst die von uns bewunderten Tech-Unternehmen scheitern vielfach Inhouse. So hat selbst Apple, trotz Milliarden-Investitionen und prall gefüllter „Kriegskasse“, sein Autoprojekt beerdigt und kommt bei künstlicher Intelligenz nicht vom Fleck.

Das Kernthema ist, dass Im Konzern jeder auf Nummer sicher spielt, niemand will seine Karriere wegen eines Flops gefährden. Als Startuper hat man hingegen meist „nicht viel zu verlieren“, aber die mögliche Upside, wenn es klappt, ist enorm. Das Technologieunternehmen Cisco hat jahrelang sehr erfolgreich gezielt wachsende Unternehmen der Branche zugekauft und integriert, mit steigenden Bewertungen von Tech-Startups ist das aber kaum noch wirtschaftlich möglich.

Anders gesagt, es gibt keinen Königsweg. Digitallabore waren jahrelang in Mode. Kaum ein Großunternehmen kam ohne eigenes Labor aus, oft in einem Backsteinbau mit Bällebad in Berlin. Doch genau diese Beispiele haben gezeigt, wie schwierig nachhaltige Innovation ist. In einer eigenen Studie aus dieser Hochphase der Innovationsgläubigkeit habe ich mit meinem Team 72 Digital-Labore und Inkubatoren untersucht. Bis auf vier waren alle weit davon entfernt, ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Heute spricht kaum jemand mehr davon, im Gegenteil.

Wie wichtig sind Purpose, Nachhaltigkeit und ethisches Handeln für den geschäftlichen Erfolg? Können Werte und Sinn auch wirtschaftlich messbar sein und wie integriert man das glaubwürdig in Strategie und Alltag?

Das ist bestimmt eine Fangfrage. Mit den seit Jahren sich verschlechternden wirtschaftlichen Rahmendaten werden meist als erstes jene Initiativen beerdigt, auf denen Purpose, Diversity, Nachhaltigkeit steht. Das kann man bedauern, aber man kann sich auch „ehrlich machen“ und Erkennen, dass man Mitgeschwommen ist im Zeitgeist. Daher haben die meisten Unternehmen derartige Programme sehr schnell beerdigt, als es mit der Konjunktur zu schwierig wurde und sich der – von den USA geprägte Zeitgeist – gedreht hat. Die Präsidentschaft von Donald Trump hat gerade bei Großunternehmen einiges verändert.

Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, erkennt man, dass ein Unternehmen exakt einen Purpose hat, der nicht verhandelbar ist und das ist die Profitabilität oder zumindest die Aussicht, diese irgendwann zu erreichen. Ich verurteile niemand dafür, denn vielfach geht es ums Überleben. Ich denke, dass wir in den letzten Jahren vielfach wichtige Anstöße bekommen haben, gerade wenn es um Diversität geht, aber viele Initiativen schlicht über das Ziel hinausgeschossen sind. Dennoch bleibt es – gerade mit Blick auf das Thema Innovation wichtig, so viele unterschiedliche Perspektiven wie möglich an den Tisch zu bringen, das sollten wir nicht vergessen.

Und was den „Purpose“ angeht. Das Unternehmen ist keine Ersatzfamilie und auch keine Tagesstätte für Erwachsene, sondern eine arbeitsteilige wirtschaftliche Organisation. Wer anderes behauptet lügt sich in die eigene Tasche.

Welche Rolle spielen persönliche Haltung, mentale Fitness, Lernen und Selbstführung in Ihrem Leben und welche Routinen oder Denkmodelle haben Sie für sich etabliert, um auch unter Druck klar und wirksam zu bleiben?

Mentale Fitness hat viel mit körperlicher Fitness zu tun. Viele Führungskräfte erkennen das zu spät in der Karriere. Ich bin Multi-Sportler und seit Jahren dafür bekannt, dass ich – wenn im Homeoffice – schon mal morgens auf den Berg gehe und trotzdem um 9:00Uhr am Schreibtisch bin.

Ich delegiere, was man delegieren kann, und setze dabei auf die Lösungskompetenz meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie dürfen jederzeit, auch außerhalb üblichen Jour-Fixes zu mir kommen, aber sie sind angehalten ihre Aufgaben selbst zu lösen und das funktioniert gut. Natürlich fängt das bei der Auswahl der Mitarbeitenden an.

Daneben lasse ich mir meinen Kalender nicht „voll müllen“. Für Dinge, die von außerhalb an mich herangetragen werden und jetzt nicht direkt in Bezug zu einem Kundenprojekt stehen, vergebe ich keine Termine, biete einen Rückruf an und mache mir für lange Autofahrten eine Rückrufliste und telefoniere dann, wenn es mir passt. Spart unglaublich Zeit und Nerven und lässt jede Menge Freiraum, den ich nutze, um mich in neue Themen einzuarbeiten, ein Buchprojekt durchzuziehen oder mich mit Branchenkollegen auszutauschen.

Mit Druck umgehen habe ich trainiert. Ich bin im Schnitt einmal die Woche bei einem Fernsehauftritt und das ist meist Live und mit minimalem Vorlauf. Da lernt man dann zu performen, wenn es drauf ankommt.

Es ist mir klar, dass „meine Methode“ nicht übertragbar ist und für andere möglicherweise nicht funktioniert. 70h+ Arbeit ist aber keinesfalls das Ziel, gerade nicht für eine Führungskraft.

Viele Stellen werden aktuell durch Künstliche Intelligenz und Automatisierung verändert oder sogar ersetzt. Was raten Sie Unternehmen und Mitarbeitern: Sollte man stärker auf Umschulung und neue Kompetenzen setzen, sich bewusst auf andere Berufsbilder vorbereiten, oder geht es vielmehr darum, die berühmte Extrameile zu gehen, Eigeninitiative zu zeigen und nicht passiv abzuwarten?

Die Automatisierung von betrieblichen Prozessen per IT ist seit Jahrzehnten ein Thema. Richtig Fahrt aufgenommen hat das Ganze aber erst mit dem Internet und dem Smartphone. Erst seit knapp drei Jahren haben wir grundlegend taugliche Tools für generative KI und schon überschlagen sich die Prognosen, was die Veränderungsrate angeht. Fakt ist aber, dass eine Vielzahl von frühen KI-Initiativen in den Unternehmen scheitern, eine aktuelle Studie des MIT spricht von 95%. So weit würde ich nicht gehen, aber wir befinden uns – ähnlich etwa wie beim eCommerce in den 90iger Jahren – in einer frühen Experimentierphase. Die meisten Unternehmen aus dieser Zeit haben nicht überlebt, aber geblieben sind echte Schwergewichte. Allen voran Amazon und jede Menge Ideen und Geschäftsmodelle, die in der zweiten oder dritten Iteration erfolgreich geworden sind, aber im Prinzip schon da waren.

Das Kernmerkmal technologischen Wandels ist, dass wir diesen kurzfristig über-, aber langfristig unterschätzen und das ist bei der AI-Revolution und den Begriff „Revolution“ habe ich bewusst gewählt, nicht anders. Jetzt ist die Zeit sich in Stellung zu bringen, ob als Unternehmen oder Mitarbeiter und rauszufinden, was für einen selbst drin ist. Dazu muss man nicht das Rad neu erfinden oder an der Spitze des Fortschritts stehen. Wichtig ist, dem Wettbewerb voraus zu sein und Entwicklungen in benachbarten Branchen im Auge behalten. Das gilt für Unternehmen und ihre Positionierung ebenso wie für Mitarbeiter und ihre Skills.

Zum Abschluss: Ihr Top-Tipp für Unternehmer

Bleiben Sie neugierig und hinterfragen Sie alles, was Sie da sehen. Die Techbranche hat eine Historie von „Overpromising“. Die Fähigkeit, den Hype zu durchblicken und die Essenz neuer Entwicklungen zu erkennen und bewerten zu können, ist die Schlüsselfähigkeit der Zukunft.